Das Ende der Welt

Die ersten Gäste besuchten uns Anfang Mai in Eriwan, Alexandras Mutter und ihr Bruder. Leider war das Wetter fast die ganze Zeit über schlecht, es regnete viel und wir mussten den Gasofen in der Wohnung wieder anstellen. Dafür gönnten wir uns ein Wochenende in einem Wellness-Hotel in zweitausend Meter Höhe in Dschermuk, der Heimat des besten Mineralwassers Armeniens. Dort schneite es Mitte Mai sogar. Schnee, Schneeregen, fünf Grad Celsius … So las sich die entmutigendste Wetterprognose, die wir jemals für einen frühsommerlichen Wochenendausflug eingeholt hatten. Wir reisten im Mini-Autokorso an. Alexandra, ihr Bruder und ihre Mutter fuhren im für Armeniens Straßen recht untauglichen, tiefer gelegten BMW-Sportwagen von Ediks Sohn. Ich gesellte mich unterdessen zu Bianca, ihrer Mutter, die gerade ebenfalls zu Besuch in Armenien war, und Biancas Freund Nigel in dessen bequemen Jeep, auf dem hinten ein Aufkleber der »National Rifle Association« klebte. Nigel war Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft, trug ein T-Shirt mit der Aufschrift »Navy Bomb Squad« und erzählte von der unerträglichen Hitze im Irak, wo sein Bruder als Soldat stationiert war. Im Bergkloster Noravank in der Schlucht des Amaghu machten wir alle dann eine ausgiebige Pause. Wir besichtigten die Anlage und bestaunten die zweigeschossige Mausoleumskirche im Zentrum des Platzes. Noch beeindruckender als die Bauwerke war das atemberaubende Bergpanorama, der Anblick der aufgefächerten, ziegelroten Gesteinsschichten und die Aussicht auf die zerklüfteten Felsklippen.
Foto: Noravank. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Trotz des Winterwetters hatten wir eine schöne Zeit in Dschermuk. Unser Hotel hieß »Armenia«, war gut, komfortabel eingerichtet und spottbillig. Es hatte zwar auch einige Mängel, so brummte der Kühlschrank in unserem Zimmer, vor den Fenstern gab es keine Vorhänge und die Cafeteria des Hotels war zugig und verraucht, dafür war das Mittags- und Abendbüffet üppig und großartig mit viel frischem Salat und Kräutern und sogar Mangold, meinem Lieblingsgemüse.
Foto: Wellnesswochenende. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.

Im Preis inbegriffen war eine »Wellness«-Behandlung. Zunächst wurden wir auf klassische Weise medizinisch untersucht, alle gemeinsam in einem Raum. Danach fand die Sauerstoffbehandlung statt. Ich bekam ein Glas mit Schaum zu trinken, angeblich reiner Sauerstoff. Als nächstes stand eine Art Zahnfleischmassage auf dem Programm, bei der ich von oben bis unten pitschnass wurde, weil mir eine Frau ein gläsernes Brauserohr ohne Erklärung in den Mund steckte und dann ohne Vorwarnung den Wasserhahn aufdrehte. Baden durfte ich aufgrund meines erhöhten Blutdrucks nicht, stattdessen unterzog ich mich einer Limonenkur, die darin bestand, ein Glas Wasser mit Zitrone auszutrinken.

Alexandra genoss derweil ihr Mineralwasserbad, das nach zehn Minuten Entspannung barsch mit dem russischen Ruf Wsjo! beendet wurde. Zum Abschluss folgte eine zwanzigminütige Massage, die eher an Chiropraktik als an Wellness erinnerte, dafür war hinterher Alexandras Wirbelsäule wieder im Lot.

Foto: Die Heimat des besten Mineralwassers Armeniens. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Am Tag unserer Abreise begaben wir uns nach dem Frühstück auf der Suche nach einem Wasserfall auf eine Wanderung in eine abenteuerliche Schlucht. Wir fanden den Wasserfall und mussten auf dem Rückweg eine steile, von Pflanzen überwucherte, schier endlose Stahlleiter emporklettern. Nachmittags teilten wir uns wieder auf. Während Alexandra und ihre Familie in Ediks bewährtem blauen Schiguli zurück nach Eriwan fuhren, setzte ich mich in Nigels Jeep. In der heißen Sonne fuhren wir durch eine wüstenartige Winnetou-Landschaft auf der einen und schneebedeckten Luis-Trenker-Bergen auf der anderen Seite. Nah über uns kreisten immer wieder Adler. Nigel erinnerte die Gegend an Arizona.
Foto: Im Schiguli. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Bevor wir Eriwan erreichten, machten wir einen Halt im Kloster Chor Virap, knapp vierzig Kilometer vor der Stadt. Von der Anlage aus konnten wir die Grenztürme an der türkischen Grenze sehen. Vor dem Kloster wurden Hähne geschlachtet und in die Kirche wurde ein Opferlamm geführt, das ein paar Tage später getötet werden sollte. Auf Grillplätzen direkt neben der Kirche wurden die Opfergaben im Familienkreis verspeist, es herrschte dabei fröhliche Picknickstimmung. Die Schlachtszenen irritierten uns. Nach der Besichtigung des Klosters liefen wir über einen verwinkelten, unübersichtlichen Friedhof, der sich vor der Anlage befand, und bestaunten die lebendigen, mitunter recht kitschigen Porträts auf den Grabsteinen.
Foto: Kloster Chor Virap. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Markus, ein Freund aus Berlin, der inzwischen in der Nähe von Genf wohnte und beruflich im Kampf gegen Landminen häufiger im Kaukasus und insbesondere in Nagorny-Karabach unterwegs war, besuchte uns ebenfalls im Mai und verpokerte mit uns einen Abend. Weitere Gäste hatten sich für den Sommer angekündigt. Im Moment lockte Austrian Airlines mit einem günstigen Angebot und bot für zweihundertneunundsiebzig Euro den Hin- und Rückflug von mehreren deutschen Städten aus nach Eriwan an. Politisch hatte sich die Situation in Eriwan beruhigt. Wir spürten zwar, dass viele Armenier äußerst unzufrieden mit der Regierung waren, doch öffentliche Proteste fanden kaum statt. Fast überall wurden nach der Wahl die Preise extrem erhöht. Auch die überflüssige, tourismusfeindliche »Ausreisegebühr« sollte sich angeblich bald verdoppeln und auf über vierzig Euro steigen. Mitte Juni bekamen wir eine E-Mail von der deutschen Botschaft, die uns wegen einer nicht genehmigten Demonstration der Opposition an der Oper in Eriwan davor warnte, ab dem späten Nachmittag das Stadtzentrum zu betreten. Zum Glück verlief diese Demonstration friedlich. Deprimiert hatte uns allerdings eine andere Nachricht. Wochen zuvor wurde ein guter Bekannter, der Günter Grass und Peter Handke ins Armenische übersetzt hatte, wegen Korruption festgenommen. Er arbeitete als Literaturprofessor an der Staatlichen Universität und sollte angeblich Examensnoten für fünfhundert Dollar verkauft haben. Zwei Geheimdienstmitarbeiter, die an der Universität eingeschleust worden waren, sollen ihn dabei auf frischer Tat ertappt haben. Der Professor wurde festgenommen und in Handschellen vor laufenden TV-Kameras aus der Universität abgeführt. Die Bilder der Verhaftung wurden abends in den Fernsehnachrichten gezeigt. Was immer an den Vorwürfen dran gewesen sein mochte: Sie rechtfertigten in keiner Weise diese überzogenen Maßnahmen, die mich an die Schauprozesse in der Sowjetunion erinnerte. Es gab viele Dinge, die mich an Armenien nervten, etwa das Fehlen internationaler Zeitungen, das mangelnde Umweltbewusstsein oder das Dudukgedudel. Schlimm war auch das rücksichtslose Verhalten der Neureichen, insbesondere des sich zeitweise in der Villa nebenan aufhaltenden Alkoholikers, der mitunter um ein Uhr oder zwei Uhr nachts damit anfing, das Tal mit Popmusik in infernalischer Lautstärke und mit dröhnenden Bässen zu beschallen. All das nervte mich, doch die fehlende Rechtssicherheit und staatliche Willkür in diesem Land erschütterte und machte mich traurig.
Foto: Mann am Fenster. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Trotzdem genossen ich die Zeit in Eriwan und bekam manchmal regelrechte Glücksdepressionen. Meine Schreibumstände waren wirklich traumhaft und nun war ich ein für allemal für ein anderes Erwerbsleben verdorben, hoffte ich. Ich überlegte, eine armenische Zeitung zu gründen, die größte des Landes. So leicht wie hier dürfte es kaum irgendwo anders auf der Welt fallen. Die Auflage der größten Zeitung betrug nur sechstausendsiebenhundert Exemplare und laut dem Statistischen Jahrbuch lag die Gesamtauflage aller in Armenien gedruckten Bücher 2005 bei unter achthunderttausend Exemplaren. Die Zahlen waren selbst bei real geschätzt nur etwa zwei Komma zwei Millionen Einwohnern erstaunlich. Überdies hatte man uns erzählt, dass die meisten Bücher an Diaspora-Armenier verkauft werden. In der vorletzten Maiwoche stand die fünftägige Deutschmobil-Bustour an, die uns durch die südlichen armenischen Provinzen Vajoz Dsor und Sjunik bis zur iranischen und aserbaidschanischen Grenze führen sollte. Am Vormittag vor der Abreise herrschte Aufregung in Alexandras Büro. Am Nachmittag sollte mitten auf dem Republiksplatz eine Open-Air-Pressekonferenz stattfinden und alle warteten gespannt auf den angemieteten Minibus, der noch geschmückt werden musste. Draußen blitzte und donnerte es und schüttete wie aus Kübeln. Die Voraussetzungen für die Freiluftveranstaltung waren denkbar schlecht. Als der Bus um vierzehn Uhr vor dem Büro hielt, wurde das Wetter freundlicher und es hörte auf zu regnen. Meri und Bianca begannen sogleich damit, das Fahrzeug mit Plakaten und Deutschlandfahnen zu schmücken. Als sie fertig waren, setzte der Regen wieder ein, trotzdem war die Stimmung fröhlich und ausgelassen ging es mit dem Bus in die Stadt. Als wir am Republiksplatz ankamen, hörte der Regen wieder auf, dafür donnerte es jetzt. Die Techniker der Nationalgalerie erwarteten uns bereits und der Aufbau vor dem Springbrunnen begann. Ein Ter-Petrosjan-Demonstrationszug marschierte über den Republiksplatz, als die nächsten Regentropfen vom Himmel fielen. Mitarbeiter der Deutschen Botschaft kamen und bauten ein Zeltdach auf, das leider nicht regendicht war. Melanie, die Ständige Vertreterin, gesellte sich in den Bus und Gagik und Artur, beide Fahrer an der Deutschen Botschaft, brachten ein Redepult und postierten es unter dem Zeltdach. Für das Aufblasen von dreißig Luftballons verlangte der Ballonverkäufer mit der Helium-Flasche sechstausend Dram, rund dreizehn Euro. Die Botschafterin fuhr vor und es donnerte, kurz nach ihr trafen die Pressevertreter ein. Touristen fotografieren sich vor der DAAD-Stellwand und langsam regnete es sich ein. Immer mehr Abgesandte der Deutschen Botschaft kamen und schließlich ein Kamerateam vom armenischen Hauptsender H1. Um vier Minuten nach vier wurde die Pressekonferenz eröffnet und der Regen wurde schwächer. Es folgten Ansprachen der Botschafterin und von Alexandra und ein gemeinsames Fotoshooting mit dem Deutschmobil. Zum Schluss stiegen dreißig schwarz-rot-goldene Luftballons in den Himmel auf und die Deutschmobil-Tour war offiziell eröffnet.
Foto: Luftballons. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Am nächsten Morgen trafen wir uns um kurz vor acht im DAAD-Büro und bestaunten mit Ehrfurcht den riesigen, zum Glück bereits toten und platt getretenen Skorpion im Hauseingang. Wir packten unsere Taschen in den Bus, dann ging es los. Robert, unser Fahrer, steuerte den Wagen sicher durch Armeniens Straßen, während sich Ani und Bianca unterhielten, Meri unter meiner Schlafbrille schlief und Alexandra letzte Hand an ihre Powerpoint-Präsentation legte. Um Viertel nach zehn erreichten wir die Schule Nummer Eins in Jeghegnadsor. Herzlich wurden wir von den Deutschlehrerinnen der Schule empfangen, die uns als erstes herumführten und die Schule zeigten, anschließend wurde feierlich die deutsche Bücherspende übergeben. Während Bianca mit den Lehrern in den dritten Stock zur Fortbildung verschwand, fand unten mit den Schülern ein Deutschlandquiz statt.
Foto: Klassenraum. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Die Fragen waren viel zu leicht und die Schüler viel zu gut, deshalb war es schwierig, die Buch- und Sachpreise gerecht unter den Schülern zu verteilen. Nach dem Quiz erhielten die Schüler dann Gelegenheit, die deutsche Botschafterin auszufragen, was sie auch mit Hingabe taten. Bei strahlendem Sonnenschein aßen wir im Restaurant Kharitak an einer langen Tafel zu Mittag, bis die Arbeit wieder rief.
Foto: Restaurant Kharitak. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Während die deutsche Botschafterin eine weitere Bücherspende in der Schule Nummer Eins in Vajk übergab, begann Alexandra nach hektischem Aufbau pünktlich um drei Uhr mit der Präsentation der Stipendienprogramme in einem Hörsaal der Gitelik-Universität vor etwa einhundertdreißig Studenten. Anschließend beantworteten Alexandra und Meri die Fragen der Studenten, es gab eine Kaffeepause und einen kurzen Umbau. Um halb fünf stieß die deutsche Botschafterin zu uns und meine »Schöner Lesen«-Präsentation begann. Ich erzählte von Berlin, meinem Verlag, der literarischen Szene und zeigte Filme über den Automatenvertrieb unserer Lesehefte. Nach einer Dreiviertelstunde war die Veranstaltung vorbei. Wir verabschiedeten uns von den Schülern, Lehrern und Müttern und fuhren zum Abendessen mit dem Rektor der Gitelik-Universität. Nach dem opulenten Mahl stiegen wir um kurz nach acht Uhr satt und zufrieden zurück in den Bus und brachen im Corso mit dem Wagen der deutschen Botschafterin zu unserem Hotel in Goris auf. Die Fahrt war lang und dunkel und führte über eine schrecklich löchrige Straße. In den Belag waren riesige rechteckige Löcher geschnitten, die mich an die »Doctor Snuggels«-Zeichentrickfilmfolge mit den Wasserdieben aus dem Weltraum erinnerte, die aus dem Meer Wasserblöcke wie Bauklötze ausschnitten und stahlen. Um kurz nach zehn kamen wir im Hotel Mirhav in Goris an. Samuel, Meris Mann, der in seinem Wagen angereist war, erwartete uns bereits. Wir bedankten uns bei Robert, gingen auf unsere Zimmer und fielen müde ins Bett.
Foto: Hempelmann. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Mitten in der Nacht, um Viertel vor drei, wurden wir von einem Höllenlärm geweckt. Vor der geschlossenen Hoteltür versuchte eine Männergruppe mit lautem Klopfen, Telefonanrufen und penetrantem Autohupen über eine halbe Stunde lang, auf sich aufmerksam zu machen. Es war eine Qual, Mordgedanken stiegen in mir auf und es fiel mir schwer, hinterher wieder in den friedlichen Schlaf zu fallen. Nach der Nerven zerrüttenden Nacht und einem ordentlichen Frühstück ging es im Bus um zwanzig vor zehn zur Staatlichen Universität nach Goris. Der rasante Aufbau der gewaltigen DAAD-Stellwand und des Videobeamers geschah unter aufmerksamer Beobachtung der knapp sechzig anwesenden Studenten und einer Handvoll Universitätsdozenten. Um halb elf begann Alexandra mit der Präsentation der Stipendienmöglichkeiten, zunächst auf Englisch. Da die anwesenden Studenten aber offenbar weder englisch noch deutsch verstanden, übersetzte Meri das Gesagte ins Armenische. Nach der Präsentation verabschiedete sich die Botschafterin von den anwesenden Studenten mit einem leidenschaftlichen Appell für das Studium in Deutschland. Bei dem gemeinsamen Mittagessen mit der Botschafterin, dem Rektor und einigen Dozenten der Staatlichen Universität Goris kam es anschließend zu einer lebhaften Diskussion über die vielfältigen Möglichkeiten der gemeinsamen Zusammenarbeit. Nach dem Mittagessen verabschiedeten wir uns von der Botschafterin, die nach Eriwan zurückkehren musste, fuhren mit dem Bus ins Hotel und stärkten uns mit Kaffee auf einer Bank unter einem Birnenbaum im zauberhaften Hotelgarten.
Foto: Unterm Birnenbaum. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Um halb drei kamen wir frisch gestärkt im Fremdsprachenzentrum von Goris an. Die Begrüßung war wieder sehr herzlich und der Aufbau ging rasch vonstatten. Es folgte eine persönliche Vorstellungsrunde mit den zwölf anwesenden Lehrern und Deutsch-Multiplikatoren. Alexandra präsentierte die Programme auf Deutsch und Meri übersetzte ins Armenische. Im Anschluss an die Präsentation folgte eine lebhafte Diskussion mit den Anwesenden. Draußen kam es zu wolkenbruchartigen Regengüssen und die Straße stand innerhalb kürzester Zeit komplett unter Wasser.
Foto: Goris. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.

Um zwanzig nach vier verabschiedeten wir uns aus Goris und fuhren nach Kapan. Nach anderthalb Stunden machten wir kurz vor Kapan eine Rast. Robert zeigte uns eine kleine, noch in Arbeit befindliche Kapelle am Straßenrand, die sein Bruder gerade in seiner Freizeit baute. Dann fuhren wir weiter.

Foto: Rast vor Kapan. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Um Viertel nach sechs kamen wir im Hotel Darist in Kapan an. Kapan war Meris Heimatstadt und lag in einem Talkessel umgeben von gewaltigen Sandsteinbergen. Im Foyer trafen wir Gagik und Melanie, die uns fortan anstelle der Botschafterin begleitete. Wir stellten die Sachen in unser Zimmer, das ebenso opulent wie abgenutzt war, und verbrachten alle gemeinsam einen wunderschönen Abend im Garten von Meris Eltern. Wir tranken Erdbeerlikör und aßen dazu vorzügliches Chorowaz, das kaukasische Schaschlik, das schon Alexandre Dumas, der auf seiner Kaukasischen Fahrt 1858 und 1859 einen armenischen Koch bei sich hatte, in höchsten Tönen gelobt hatte. Nach dem tollen Abend bei Meris Eltern im Garten frühstückten wir morgens auf der Terrasse im Sonnenschein. Leider war Alexandra über Nacht krank geworden und musste den Tag in dem völlig heruntergekommenen Hotelzimmer verbringen. Melanie überreichte im Gymnasium von Kapan in Anwesenheit von Journalisten und einem Kamerateam ihre Gastgeschenke und es kam zur feierlichen Übergabe der Bücherspende an die Schule. Anstelle von Alexandra moderierte ich mit Melanie und Meri das Deutschlandquiz – leider ohne Powerpoint-Präsentation, da ein Computervirus den Treiber des Rechners beschädigt oder entfernt hatte. Beim Rundgang wurde uns danach die Schule gezeigt und in einem Klassenraum sprachen wir mit Schülern, die eine Brieffreundschaft mit einer Schule in der Stadt Zeitz in Sachsen-Anhalt unterhielten.
Foto: Stadt Zeitz. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Es folgte ein schönes Essen und interessantes Gespräch im Büro des Direktors, dann verabschiedeten wir uns von der vorbildlichen Schule, ihren Lehrern und Schülern, spazierten durch Kapan und statteten Alexandra einen Krankenbesuch ab. Danach ging es zur Kapaner Filiale der Staatlichen Ingenieursuniversität. Auch hier gab es wieder Probleme mit dem Beamer und dem Laptop und die Präsentation musste improvisiert ohne Powerpoint-Unterstützung stattfinden. Zurück im Hotel testete ich den Beamer mit meinem Ibook und hatte zum Glück keine Probleme. Um halb sechs begann dann meine Lesung und »Schöner Lesen«-Präsentation im Jugendzentrum Sjunik, gefolgt von einer Filmvorführung von »Sommer vom Balkon«.
Foto: Schöner Lesen. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Um halb zehn waren wir wieder im Hotel. Melanie und ich kämpften noch mit der Hoteladministration um einen ordentlichen Rechnungsbeleg, danach wünschten wir uns gute Nacht und gingen auf unsere Zimmer. Um halb neun mit einer halben Stunde Verspätung öffneten sich am nächsten Morgen die Türen des Hotelrestaurants. Melanie berichtete beim Frühstück vom ausführlichen Bericht über den Besuch des Deutschmobils im Gymnasium Kapan, den sie im Fernsehen gesehen hatte. Um zwanzig vor zehn verließen wir das Hotel und brachen nach Meghri auf.
Foto: Meghri-Pass. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Wir überquerten den Meghri-Pass in zweitausendfünfhundert Meter Höhe, fuhren entlang der iranischen Grenze und erreichten um halb zwölf die Schule Nummer eins in Meghri. Wieder einmal wurden wir herzlich empfangen und bei der szenischen Lesung der Schüler im Lehrerzimmer flossen einigen im DAAD-Team vor Rührung die Tränen.
Foto: Freundschaft. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Hinterher nahmen wir an der »Letzten Glocke«-Abschlussfeier in der Aula teil und Melanie wünschte den Absolventen für ihre Zukunft alles Gute. Um Viertel vor eins stiegen wir wieder in den Bus und brachen zu unserer letzten Station auf, fuhren erneut an der Grenze zum Iran entlang und sahen aus den Fenstern Grenztürme und den aus Marjanes Satrapis »Persepolis« bekannten Fluss Aras. Um zehn vor eins kamen wir an der Schule in Agarak an.
Foto: Agarak. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Im Büro der Rektorin übergab Melanie die Bücherspende und wir sprachen mit den Deutschlehrern der Schule. Um halb drei verabschiedete sich Melanie, um nach Eriwan zurückzukehren. Wir setzten uns in den Bus und fuhren zurück nach Goris. In Kapan machten wir einen Zwischenstopp, füllten unsere Vorräte auf und kauften Eis und Obst. Dann ging es weiter und wir fuhren ein letztes Mal durch die berüchtigten siebenundzwanzig engen Kurven von Goris. Um Viertel nach sechs kamen wir ausgehungert im Hotel an. Trotz eineinhalbstündiger Voranmeldung war das Essen noch nicht da. Ungeduldig warteten wir im Restaurant auf unser Essen und trafen einen frischgebackenen DAAD-Stipendiaten, der eine sechsundzwanzigköpfige österreichische Wandergruppe betreute.
Foto: Kloster Tatev. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Nach einem guten Hotelfrühstück brachen wir am nächsten Morgen zum Kloster Tatev auf. Die Straße hinauf zum Kloster stellte an den Bus, die Insassen und vor allen Dingen an Robert, unseren Fahrer, höchste Ansprüche, doch der Aufstieg lohnte sich und begeistert besichtigten wir die gewaltige, auf einem Felsvorsprung gelegene Klosteranlage mit ihren drei Kirchen. Anschließend fuhren wir weiter, machten in einem idyllischen Restaurant in der Nähe von Goris Mittagspause und aßen Salate, Lawasch und kleine Fische. Um kurz nach fünf setzten wir uns wieder in den Bus und erreichten nach zwei Stunden Eriwan. Meri und Samuel brachten Alexandra und mich nach Hause, wo uns Udo bereits freudig erwartete.
Foto: Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Viel Gutes für das deutsch-armenische Verhältnis hat gewiss der Eurovision Song Contest in Belgrad getan, da nach der gruseligen Vorstellung der deutschen No Angels der tolle armenische Beitrag »Qele qele« von Sirusho folgte. Wir fanden ihren Auftritt klasse und das Lied besser als die vergleichbaren, am Ende vor ihr platzierten Beiträge aus Griechenland und der Ukraine und hätten Sirusho gern auf dem verdienten zweiten statt auf dem undankbaren vierten Platz gesehen. Froh waren wir allerdings, dass sie nicht gewonnen hatte, denn das hätte Armenien organisatorisch und strukturell vor kaum zu bewältigende Probleme gestellt. Unseres Wissens gab es in Eriwan überhaupt keine Halle, in der so viele Zuschauer, wie sie für eine Eurovision-Austragung zu erwarten sind, hineingepasst hätten. Zudem musste Alexandra im nächsten Mai sowohl ein großes Alumni- und Lektorentreffen als auch eine Germanistenkonferenz organisieren. Eine zeitgleich stattfindende Eurovisions-Austragung hätte gewiss eine nicht zu stopfende Hotelbettenlücke geschaffen. Aufgeregt hatten wir uns bei der Eurovisions-Übertragung über die merkwürdigen Kommentare des ARD-Moderators, der fast jede, in unseren Ohren gerechtfertigte Stimmabgabe für Armenien als Nachbarschaftshilfe abtat oder sie mit der Zahl der hohen Auslandsarmenier in jenem Land erklärte. Wir bezweifelten jedenfalls stark, dass in Belgien, das Armenien zwölf Punkte gab, dermaßen viele Auslandsarmenier lebten, da hätte uns ein Blick in die Informationsquellen des Moderators doch sehr interessiert.
Foto: Spaziergang in Dschermuk. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.

Die Fußball-Europameisterschaft in Österreich und in der Schweiz veränderte unser Leben. Aufgrund der Zeitverschiebung begannen die Abendspiele in Armenien erst um dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig. In der Gruppenphase waren wir dementsprechend übernächtigt. Auch die Champions League-Fußballspiele konnte ich im Frühjahr im armenischen Fernsehen live und unverschlüsselt sehen, oft wurden die Spiele sogar parallel auf verschiedenen Sendern gezeigt. Schwer zu ertragen waren allerdings die Halbzeitpausen, in denen ein schleimiger Greis Werbung für eine Mineralwassermarke machte. Das war quasi der einzige Werbeclip und wurde in heavy rotation fünfzehn Minuten am Stück gezeigt. Kurios war zudem eine Sendung, die abends im Hauptsender endlose, mit Musik unterlegte Kamerafahrten durch ein Möbelstudio zeigte. War es Werbung oder Bildung, vielleicht die armenische Variante von Alexander Kluges DCTP?

Foto: Militärmagazin. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Spontan besuchten wir nach dem Essen bei meinem neuen Stamm-Mexikaner eine Ballettvorstellung in der Eriwaner Oper, sahen zuerst eine zwanzigminütige Aufführung eines Antikriegsstücks mit Studententheaterflair, dann folgte eine lange zwanzigminütige Pause und danach ein Tango-Balett mit »Nip/Tuck«-Erotik. Leider hatte ich meine Digitalkamera vergessen. Erinnerungen an unseren letztjährigen, in der Pause abgebrochenen Theaterbesuch von Schillers »Don Carlos« in Schwerin wurden dabei wach. In dem schönen Schwerin, für das Thomas Kapielski den flotten Werbespruch »Schwerin – Schwer in« kreiiert hatte. In der Stadt, dessen McDonald’s am Hauptbahnhof bereits um einundzwanzig Uhr die Pforten schloss, und in der wir den Plan gefasst hatten, in Bälde alle bundesdeutschen Landeshauptstädte zu besuchen. Wir dachten daran, bei unserem nächsten Deutschlandaufenthalt auch Magdeburg einen Besuch abzustatten, da wir an einem späten Sommernachmittag im Juni die Delegation des sachsen-anhaltinischen Kultusministers Olbertz im Sergei-Paradschanow-Museum getroffen und einen wunderbaren Abend im idyllischen Hof des Museums mit gutem Essen und in bester Stimmung verbracht hatten. Der sehr nette Kulturreferent, ein ehemaliger DAAD-Lektor, lud uns zu sich nach Magdeburg ein und mit der Universität in Halle wurde eine Hochschulkooperation verabredet. Die Botschafterin stellte uns der armenischen Kultusministerin vor, die sich mit mir ausgiebig über einen deutsch-armenischen Lyrikeraustausch aus dem Jahr 2000 unterhielt, der von der Literaturwerkstatt Berlin organisiert worden war. Lose verabredeten wir für den Sommer einen Besuch in Halle, bei dem uns die Pressereferentin der Universität, die gleichzeitig die Ehefrau des Kultusministers war, die Stadt zeigen wollte und begeistert sahen wir anschließend alle zusammen das klasse Fußballspiel Deutschland gegen Portugal.
Foto: Denkmal. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Grund des Besuchs der Delegation war die Initiative von Peter Maffay gewesen, traumatisierte, musikalisch hochbegabte, Deutsch sprechende armenische Kinder, die zudem möglichst auf eine der drei Partnerschulen Sachsen-Anhalts in Armenien gingen, für ein paar Wochen auf seine Finca auf Mallorca einzuladen. Wir bedauerten Melanie, diese speziellen Kinder ausfindig machen zu müssen. Ursprünglich war die Initiative von Peter Maffay für deutsche Kinder gedacht gewesen, doch da Armenien das Partnerland von Sachsen-Anhalt war und der Kultusminister einen guten Draht zu Peter Maffay besaß, wurden dieses Jahr erstmals auch armenische Kinder nach Mallorca eingeladen. Der Besuch der Delegation in Armenien sollte eigentlich schon im März stattfinden und Peter Maffay sollte auch mitreisen, aufgrund des Ausnahmezustands in Armenien wurde die Reise dann allerdings kurzfristig auf Mitte Juni verschoben und Peter Maffay konnte aus Termingründen leider nicht mitkommen. Im Garten der Botschafterin unterhielt ich die Delegation mit meinen Peter-Maffay-Geschichten, denn in meiner Familie galt Peter Maffay als Heiliger – zumindest der frühe Peter Maffay. Seine Lieder wurden damals rauf und runter gespielt. Josie und es war Sommer, so bist du, lieber Gott, wenn es dich gibt, ein Wort bricht das Schweigen, diese Sucht, die Leben heißt, Karneval der Nacht, Liebe wird verboten, Sonne in der Nacht, Samstag Abend in unserer Straße … Dass ich später Mutter und Milch und Tocotronic hörte, war allein Peter Maffays Verdienst. Man rühmt Rio Reiser und Udo Lindenberg stets als Pioniere der deutschsprachigen Poplyrik, wahrscheinlich aber hat Peter Maffay viel mehr junge Menschen traumatisiert oder sagen wir besser: sensibilisiert. Auch das erste Konzert, das ich zwangsweise besucht hatte, war ein Konzert von Peter Maffay gewesen, Anfang der achtziger Jahre, in der Dortmunder Westfalenhalle. Es war die Tour, bei der Peter Maffay zu Beginn der Show auf seiner Harley Davidson durch sein eigenes Emblem fuhr. Bei diesem Detail sprang Minister Olbertz vor Begeisterung auf und erzählte, dass er ein paar Wochen zuvor beim Besuch von Peter Maffays Finca auf eben dieser Harley gesessen hatte.
Foto: Eingangshalle. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Peter Maffay war übrigens mit einer Dorstenerin liiert, deren Eltern ganz in der Nähe von meinem Elternhaus wohnten und gleichzeitig auch gute Bekannte von meinen Eltern waren. Als ich im Sommer zuvor in Dorsten weilte und mit meinen Eltern im Nachbargarten saß, kam das Gerücht auf, dass an diesem Abend auch Peter Maffay mit seiner Frau zu der Runde stoßen würde, und in diesem Moment hatte ich eine sehr plastische Vision vom Ende der Welt. Das Gartenhaus meiner Eltern befand sich nur wenige Meter entfernt und gewiss hätte man Peter Maffay ohne Probleme in das Häuschen lotsen können, welches ein Peter-Maffay-Refugium war, in dem seine Lieder oft erklangen und in dem alle seine frühen Platten lagerten. In dem Augenblick, in dem sich Peter Maffay, meine Eltern und ich gemeinsam in das kleine Gartenhaus gezwängt hätten und in dem dann aus der Stereoanlage einer der alten Hits von Peter Maffay erklungen wäre, hätte alles plötzlich einen Sinn ergeben, der Kreislauf des Lebens hätte sich geschlossen, die Erde wäre in sich zusammenfallen, das Weltall auf Erdnussgröße geschrumpft und schließlich ganz verschwunden. Diese Version erwähnte ich gegenüber Minister Olbertz allerdings nicht.
Foto: Kreislauf des Lebens. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Der Sommer war schön und voller Erlebnisse. Wir hatten unsere ersten beiden Ölgemälde gekauft, schauten alle Staffeln der »Sopranos« und waren traurig, als die großartige Serie zu Ende war. Zu meiner großen Erleichterung beendete ich meinen Russisch-Unterricht und besiegte stattdessen den Endgegner von »Mario Galaxy«. Unser Jahrzehnte alter Kühlschrank gab seinen Geist auf und wir mussten notgedrungen einen neuen kaufen und den kaputten, extrem schweren Kühlschrank in die Garage von Sirousch tragen, weil sie ihn beizeiten reparieren lassen wollte. Sirousch hatte inzwischen einen Narren an mir gefressen und umarmte mich bei jeder Begegnung lang und mehrfach. Es fühlte sich an wie damals in Wien, als Alexandra und ich bei einem Spaziergang von einem Regenguss überrascht worden war, Zuflucht in einem »kik«-Geschäft fanden und ich, weil mein Hemd pitschnass geworden war, in der Garderobe ein Hemd anprobierte und sogleich einen brennenden, feuerroten Ausschlag auf dem Rücken bekam. Eine Zeit lang kam Sirousch sogar jeden Tag hoch, um sich auf unserer Personenwaage zu wiegen, angeblich auf Anordnung ihres Arztes. Ich musste die Zahl immer von der Waage ablesen und wusste seither, dass Sirousch dreiundsiebzig Kilo wog – mit Anziehsachen! Viel lieber ließ ich mich da doch von der betörendsten Wasserableserin der Welt stören, einer großen, elegant und aufreizend in schwarz gekleideten Dame mit riesigem Ausschnitt, die schon dreimal auf hohen Stöckelschuhen den Zählerstand im Kabuff auf unserem Balkon abgelesen und notiert hatte. Auch Zeugen Jehovas, eine Frau und ein Mädchen, hatten bereits an der Haustür geklingelt, zu meinem Glück sprachen sie aber weder Englisch noch Deutsch. Im Sommer sammelten wir neue Erfahrungen mit der Tierwelt. Nachts im Bett vernahmen wir den Gesang von Vögeln, wahrscheinlich Nachtigallen. Wenn wir abends auf dem Balkon saßen, hörten wir Frösche quaken und wurden von Fledermäusen umschwirrt. Wochenlang wurden wir zudem furchtbar von Mücken gequält. Es war unglaublich, aber man sah die winzigen Viecher nicht. Erst als wir eine mit Blut vollgesogene Mücke in unserem Moskitonetz entdeckt und erledigt hatten, waren wir immerhin sicher, dass wir nicht von Flöhen oder Wanzen zerbissen wurden. Auch mehreren Skorpionen waren wir in der Zwischenzeit begegnet. Einen hatte ich morgens weggesaugt, einen anderen, recht kleinen, mit meinem Birkenstock-Imitat zermanscht. Entsetzlich groß war allerdings der Skorpion, den Alexandra beim Weggießen des Blumenwassers entdeckt und aufgescheucht hatte, der aus dem Rohr gekrochen kam und den ich erst nach langem Kampf mit einer Stange vom Balkon in Sirouschs Garten befördern konnte.
Foto: Armenische Röhre. Aus: Eriwan. Kapitel 4. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
In Eriwan fand ich Gelegenheit, teilweise vier Jahre alte Manuskripteinsendungen für die »Schöner Lesen«-Heftreihe abzulehnen und traute mich erstmals in Armenien zum Frisör. Hinterher sah ich aus wie ein Armenier. Vorne viel zu kurz, hinten viel zu lang. Leider hatte ich bei der Deutschmobil-Tour in Agarak auch meine »Mr Clark«-Sonnenbrille verloren und malte mir oft aus, wie eine Person nun total cool mit meiner Sonnenbrille durch die staubtrockenen Straßen Agaraks flanierte. Für viel Geld hatte ich mir eine neue Sonnenbrille zugelegt, die aber von unzureichender Qualität war, schlecht entspiegelte Gläser besaß und bei der sich meine Haare oft in der Fassung der Gläser verfingen.
Lehrerzimmer
In Armenien dauerte der Tag der Arbeit drei Tage, in diesem Jahr von Donnerstag bis Samstag. Dafür mussten die Armenier am Sonntag arbeiten, um den Ausfall aufzuholen. Überhaupt waren Feiertage für Einheimische und Ausländer eine stete Quelle der Verwirrung. Zwar gab es einige nationale Feiertage, die immer auf den gleichen Tag fielen und bei denen die Art und Weise, wie sie zu feiern seien, recht eindeutig waren, etwa Neujahr am ersten Januar, darüber hinaus gab es aber auch bewegliche kirchliche Feste sowie inoffizielle Festtage vorchristlichen Ursprungs, bei denen die Lage wesentlich undurchsichtiger war. Wenn ein kirchlicher Feiertag etwa auf einen Sonntag fiel, war der Montag frei, dafür musste am Samstag gearbeitet werden. Diese Regelung galt seit kurzem in Armenien auf Anregung des Katholikos, dem Oberhaupt der armenisch-apostolischen Kirche. Die Bevölkerung war darüber jedoch jedes Mal so verwirrt, dass ein Teil der Belegschaft am Samstag, ein Teil am Montag und ein nicht unerheblicher Teil überhaupt nicht zur Arbeit erschien.