Welt im Wandel

Kurz nach Uljana musste auch ich Eriwan verlassen. Am Tag vor meiner Abreise feierten wir bei Biancas Freund Nigel Thanksgiving. Natürlich gab es Truthahn und wir trafen ein nettes indisches Paar, das von seinen Schwierigkeiten mit der Medizinischen Universität berichtete und uns auch Reisetipps für Indien gab. Dann flog ich nach Berlin, um meinen Führerschein zu machen, knapp drei Wochen früher als Alexandra, die in Eriwan blieb und dem Wintereinbruch entgegen sah. Die Theorieprüfung bestand ich drei Tage nach meiner Ankunft. Ich hatte mich in Eriwan zwar widerwillig, aber durchaus gewissenhaft vorbereitet. Vier Tage später saß ich das erste Mal hinter einem Lenkrad und steuerte einen VW Golf an der Seite meines Fahrlehrers zwei Stunden lang durch den Berliner Schneeregen. In der fahrstundenfreien Zeit schrieb ich das Skript für die neunte Begeisterungs-Show, die am fünften Dezember im Nbi stattfand. Als Ehrengäste hatten wir die März-Verlegerlegende Jörg Schröder, Barbara Kalender und Martin Schmitz eingeladen. Die Show war toll – und wirklich jeder Gast bekam eines der vielen schönen zu verlosenden Geschenke. Zur Belohnung gönnte ich mir vier Tage später einen Besuch in der »Düsterhaupt«-Sauna in Waidmannslust. Es war eine rustikale Anlage, die wie die meisten Besucher schon leicht in die Jahre gekommen war. Der erste Satz, den ich unter der Dusche unfreiwillig belauschte, lautete: »Das muss natürlich nicht heißen, dass Du Krebs hast!« Alexandra blieb derweil noch in Eriwan, um die Unterlagen von hundert Bewerbern für die Hochschulsommerkurse zu sichten und die Auswahlen für das Semesterstipendienprogramm für Germanisten durchzuführen. Um die drei Stipendien hatten sich in diesem Jahr nur sechs Studentinnen beworben … Glückliche Germanisten! Außerdem heuerte sie Baback als neuen Systemadministrator an. Er war ein Bekannter von Bianca und Nigel, die ihn bei den Gottesdiensten der Yerevan International Church kennengelernt hatten. Der Designer aus dem Iran war als Asylsuchender nach Armenien gekommen, da er seit seiner Konversion zum Christentum im Iran verfolgt wurde. Ein ebenfalls zum Christentum konvertierter Cousin von Baback war im Iran hingerichtet worden. Da Asylbewerber in Armenien kaum Unterstützung erhielten, kam der Job für Baback zum richtigen Zeitpunkt. Alexandra freute sich ebenfalls, endlich einen Englisch sprechenden Systemadministrator gefunden zu haben und nach meiner Rückkehr fand ich in Baback den ersten überzeugten Mac-User in Armenien, der mangels Hardware die MacOS-Software sogar auf seinem PC installiert hatte. Die Beschaffung und Pflege der Technik-Ausstattung nahm einen großen Teil von Alexandras Arbeitszeit in Anspruch. Im DAAD-Büro traf Baback gleich auf eine lange Liste zu erledigender Aufgaben. Auf den Rechnern waren Betriebssysteme mit ungültigen Lizenzen installiert, ständig gab es Probleme mit Viren und den armenischen Fonts, die WLAN-Antennen hatten Wackelkontakte und der Kopierer war so langsam, dass nur die geduldige Ani ihn bedienen konnte. Mitte Dezember reisten Alexandras Kollegen aus Georgien und Aserbaidschan zum kleinen Regionaltreffen nach Eriwan, um gemeinsame Projekte wie Sommerschulen für Studierende und Alumni zu besprechen. Damit die beiden noch andere Projektpartner aus Armenien kennenlernen konnten, hatte Alexandra zu einem großen Abendessen eingeladen, das aus Rücksicht auf ihren aserbaidschanischen Kollegen, der militanter Nichtraucher war, in einem Séparée in der Kaukasus-Taverne stattfand. Das Separée war zwar kuschelig eng, lag aber leider recht abgelegen im unteren Geschoss des Restaurants. Für die zwölf anwesenden Personen wurde alle halbe Stunde mal eine Portion Salat, ein Brotkorb oder eine Flasche Wein in den Raum gereicht. Die Kaukasus-Taverne mieden wir seit diesem Abend.
Foto: Katzen. Aus: Eriwan. Kapitel 6. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Am folgenden Tag wurde der Geburtstag der Botschafterin in ihrer Residenz gefeiert. Alexandra und Bianca schenkten ihr gemeinsam einen grünen Schal und die beiden hatten Glück, denn die Farbe Grün fehlte der Botschafterin noch in ihrer umfangreichen Sammlung. Extrem schwierig wurde im Dezember dafür der Zahlungsverkehr und die Bargeldbeschaffung in Eriwan. Nach einer Fälschungswelle mit Visa-Karten reagierten die Banken damit, alle Geldautomaten für Visa-Karten zu sperren. Glücklicherweise machte unsere Hausbank eine Ausnahme und eröffnete just im Dezember ihren ersten Geldautomaten, auch für VISA-Karten, der damit zu unserer einzigen Bargeldquelle wurde. Am achtzehnten Dezember flog schließlich auch Alexandra zurück nach Berlin und kam frühmorgens an. Am selben Nachmittag hatte ich meine Fahrprüfung, durch die ich mit Schimpf und Schande rasselte. Weihnachten fuhren wir dann gemeinsam zu unseren Verwandten nach Dorsten, Essen und Düsseldorf, den Jahreswechsel verbrachten wir kränkelnd bei Alexandras Mutter in Berlin. Mit letzter Kraft erreichten wir einen Tag später eine abgeschiedene Sport- und Wellness-Hotelanlage in Brandenburg, in der wir uns vier Tage lang aufpäppelten. Zurück in Berlin fuhr ich wieder viel Auto. Wir besuchten unsere Ärzte, erneuerten unsere Impfungen und trafen viele Freunde. In einem Gespräch über den Georgien-Konflikt fiel dabei der wahre Satz: »Je mehr man über die Sache erfährt, um so unsympathischer werden einem die russische und die georgische Seite.« Zwei Tage vor unserer Abreise bestand ich dann gottlob die zweite praktische Führerscheinprüfung. Die Faustregel, dass man für jedes Lebensjahr eine Fahrstunde benötigt, traf in meinem Fall exakt zu. Am Abend vor unserer Abreise nach Eriwan besuchten wir ein Konzert mit Tom Liwa. Es war eine recht betuliche Veranstaltung und am Tresen fragte eine Konzertbesucherin die Tresenkraft: »Haben Sie auch Eierlikör?« Am sechzehnten Januar kehrten wir schließlich nach Eriwan zurück. Im Vergleich zum Vorjahr war der armenische Winter ausgesprochen mild und ließ sich gut aushalten. In den nächsten Wochen widmeten wir uns ausgiebig der Lektüre. Alexandra wunderte sich über seltsame Ausdrücke in Mario Puzos »Der Pate«, etwa den Ausruf »Du alter Schnurrbartpeter«. Ich wiederum las viele Märchen. Bemerkenswert fand ich den Umstand, dass Wilhelm Hauff seinen Debütroman unter dem Namen des Erfolgschriftstellers Heinrich Clauren veröffentlichen ließ, und lange dachte ich darüber nach, ob ich meinen nächsten Roman eventuell als Daniel Kehlmann auf den Markt bringen sollte. Von der Finanzkrise war in Armenien zunächst nicht viel zu spüren. Die nationale Währung erlebte einen Höhenflug, Euro und Dollar waren hingegen im Keller. Hatten wir im August 2007 noch etwa vierhundertachtzig Dram für einen Euro bekommen, waren es im Januar nur noch dreihundertvierzig. Die Stärke des Dram war nicht der florierenden armenischen Wirtschaft zu verdanken, sondern der künstlichen Stützung durch die armenische Nationalbank CBA, die nahezu sämtliche Dollarreserven ausgab, um den Dramkurs zu halten. Trotz dieser Kamikaze-Aktion stiegen die Preise weiter. Im Vergleich zu 2007 hatte sich die Inflationsrate 2008 fast verdoppelt und lag nun bei neun Prozent. Die Bevölkerung traf dies umso mehr, da nicht nur Löhne und Mieten häufig in Euro oder Dollar festgesetzt worden waren, sondern auch fast fünfzig Prozent der Armenier von Auslandsüberweisungen der Diaspora lebten. Diese Einkommen verloren dramatisch an Wert, während die Preise stiegen. Einzige Profiteure dieser Politik waren die Import-Monopolisten. Die Dollarreserven des Staates wurden sozusagen privatisiert und wieder einmal wurde uns die fatale Verstrickung der armenischen Politik und des Oligopols vor Augen geführt.
Foto: Strom. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Alexandra hatte neue Flyer für das Büro drucken lassen und nun viel Ärger mit der von ihr beauftragten Druckerei. Diese verlangten für die Ausstellung einer Rechnung, dass Alexandra persönlich vorbeikäme und ihren Pass im Original vorlege. Erst nach über einer Woche zermürbenden Hickhacks gab sich die Druckerei schließlich mit einem Fax zufrieden. Ich entdeckte derweil Rahmspinat in der Tiefkühlabteilung eines SAS-Supermarktes und hoffte auf eine Revolution meines Speiseplans. Leider war der Spinat nicht lecker. Sehr angetan waren wir von Gold’s Gym, einem recht exklusiven Ableger einer amerikanischen Fitnesskette mit Sauna, zwei großen Gerätehallen und einer Schwimmhalle mit 50-Meter-Bahnen. Da wir sehr darunter litten, unseren Bewegungsdrang nicht ausleben zu können, entschlossen wir uns, einen gemeinsamen Jahresvertrag abzuschließen, für stolze fünfhunderttausend Dram. Dabei wurde uns nicht nur ein günstiger Pärchen-, sondern auch noch ein Botschaftstarif gewährt. Dafür bekam wiederum Karen, der Sales-Manager, Ärger, denn offiziell waren wir keine Botschaftsangehörigen. Allerdings besaßen wir beide einen roten Dienstpass des Auswärtigen Amtes, der alle Behörden und Dienststellen des In- und Auslandes ersucht, den Inhaber des Passes frei und ungehindert reisen zu lassen und ihm nötigenfalls Schutz und Beistand zu leisten. Dieser Pass schindet an der Grenze oft Eindruck, verzögert aber auch die Kontrollen. So nehmen die Beamten meinen Pass gern ehrfurchtsvoll in die Hand und schauen ihn sich sehr genau an. Die Ehrfurcht verfliegt schlagartig, nachdem sie meine Dienstbezeichnung auf Seite sechs gelesen haben: Ehemann der DAAD-Lektorin. Mehrere Wochen zogen sich die Verhandlungen mit dem Gold’s Gym hin, dank Karen konnte am Ende alles geklärt werden und wir wurden offizielle Mitglieder, so wie auch Dennis Hopper, Sir Anthony Hopkins, David Hasselhoff und Janet, Jermaine und Samuel L. Jackson, wie die riesige Tafel mit Namen im Eingangsbereich des Fitnessstudios stolz verkündete. Bedauerlicherweise mussten wir die Jahresgebühr auf einen Sitz bezahlen, als der Dram gerade auf seinem Rekordhoch stand. Hätten wir die Gebühr einige Monate später gezahlt, hätten wir rund dreihundert Euro sparen können. Allerdings ist Geiz ein großer Motivator und so besuchten wir das Gold’s Gym im Schnitt zwei-, manchmal sogar dreimal pro Woche und spürten seitdem eine deutliche Steigerung unserer Lebensqualität. Auch unsere Wohnung hätte etwas für ihre Fitness tun können. Nach unserer Rückkehr entdeckten wir, dass Putz in der Küche von der Decke gefallen war, es gab auch einige neue Risse. Mit Gruseln erinnerten wir uns an die Geschichte eines deutschen Botschaftsmitarbeiters, dem in seinem Haus die komplette Wohnzimmerdecke eingestürzt war und das Klavier begraben hatte. Zum Glück waren er, seine Frau und seine Kinder beim Einsturz gerade außer Haus gewesen. Ende Januar besuchte erneut eine Professoren-Auswahlkommission Armenien. Aus diesem Anlass richtete die Botschafterin in der Residenz einen Empfang aus. Dabei bot sie mir als Fahruntersatz zum Üben ihren Opel Astra an. Dieser stand eigentlich die meiste Zeit über in der Garage und wurde nur von einem Botschaftsmitarbeiter alle paar Wochen gestartet und um den Häuserblock bewegt. Mit diesem Auto hatten sich unsere Bücher und Möbel auch den Transportcontainer auf ihrem Weg nach Armenien geteilt. Zum Glück, denn so mussten wir nicht den vollen Preis für einen Container bezahlen, rund zehntausend Euro, sondern konnten eine billige Beiladung arrangieren. Mit der Kommission unterhielten wir uns ausgiebig über Schlager und Fernsehserien. Später gab es noch im kleinen Kreis eine kognakreiche Diskussion bis weit nach Mitternacht. Die Botschafterin bat mich außerdem, bis Juni »Schöner Lesen«-Abende in der Provinz zu veranstalten, insbesondere zum Thema Comics, gern auch mit Gästen.
Foto: Friedhof. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Alexandras Auswahlen waren in diesem Jahr besonders anstrengend. Insgesamt mussten rund sechzig Bewerber befragt werden, obwohl nur zwei Stipendien zu vergeben waren. Die Atmosphäre im Büro war trotzdem sehr entspannt, draußen war herrliches klares Winterwetter, und selbstverständlich wurde für die Kommission ein Besuch im Matenadaran und auf der Vernissage arrangiert. Anfang Februar besuchte ich das Aram-Chatschaturjan-Haus und ließ mich durch das Wohnhausmuseum führen. Zwei Museumsmitarbeiterinnen begleiteten mich durch die Ausstellung. Eine machte das Licht in den Räumen vor mir an, die andere hinter mir aus. Aus Lautsprechern erschallten dazu Kompositionen von Chatschaturjan, eine Box war allerdings defekt und aus ihr kam nur ein elektrischen Knarzen – Klassik meets Industrial. Rührend war der Anblick von Chatschaturjans Schlafzimmer. Auf dem Bett lag sein geöffneter Koffer, vor dem Bett standen seine Hauspantoffeln … So als wäre der Komponist nur mal kurz auf Toilette gegangen. Ich war von dem Museum so angetan, dass ich drei Tage später dorthin zurückkehrte und einem Konzert mit Werken von Franz Schubert, Johannes Brahms und Richard Strauß lauschte. Unser Leben nachhaltig verbessert hatte nicht nur die Gold’s Gym-Mitgliedschaft, sondern auch der neue Deal mit dem Internetanbieter Crossnet, den Alexandra für das Büro aushandeln konnte. Zum gleichen Preis gab es dort nun eine Internet-Flatrate ohne Volumenbegrenzung. Die Raubkopierproblematik war in Armenien kein Thema. In Eriwan existierten zahlreiche CD- und DVD-Shops und sie alle verkauften fast ausnahmslos Schwarzkopien von meist sehr fragwürdiger Qualität. Im Filmklub der Amerikanischen Universität sahen wir beispielsweise gemeinsam mit Meike und Sophie eine offenkundig von der Kinoleinwand abgefilmte Fassung von Clint Eastwoods Melodram »The Changeling«, bei der es kaum möglich war, die Umrisse der Personen zu erkennen. Nach der Filmvorführung gingen wir mit Meike und einer Freundin bei unserem Lieblings-Inder »Kharma« essen. Dort erzählte Meike, die am Umweltschutzzentrum der Amerikanischen Universität arbeitete, wieder einmal Horrorgeschichten, etwa, dass es in ganz Armenien keine Kläranlagen gebe und die Felder mit Abwasser gedüngt würden. Während der Schilderung kippte die Freundin plötzlich ohnmächtig vom Stuhl. Der Grund dafür waren aber nicht Meikes Geschichten, sondern ein durch die Höhenlage verursachter Sauerstoffmangel in Verbindung mit der ungünstigen Lage des Restaurants in einem fensterlosen Kellergewölbe. Der Schreck bei uns allen war groß, doch zum Glück war der Freundin beim Sturz nichts passiert. Sie kam rasch wieder zu sich, wir halfen ihr auf und nach kurzer Zeit ging es ihr wieder besser. Fünf Tage nach der Ohnmacht der Freundin ereilte mich im Fitnessstudio das gleiche Schicksal. Auf dem Crosstrainer hatte ich zunächst einen halbstündigen Alpenlauf simuliert, ging danach in die Sauna und wollte anschließend noch ein paar Bahnen schwimmen. Als ich in die Schwimmhalle trat, wurde mir schwindelig, ich setzte mich auf eine Bank, bekam Ohrendruck und das Gefühl, mit dem Kopf in einer Taucherglocke zu stecken, dann wurde mir schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Kachelboden und war umringt von Menschen, die auf Armenisch und Russisch auf mich einredeten … Das konnte nicht das Paradies sein! Während Alexandra zur selben Zeit in der Damensauna saß und sich anschließend umzog, reichte man mir ein Glas Wasser und ein Twix und eine Frau maß meinen Blutdruck. Er war einhundertdreißig zu neunzig, später einhundertfünfzehn zu fünfundsiebzig und allmählich ging es mir besser.
Foto: Armenische Röhre. Aus: Eriwan. Kapitel 6. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Wir waren froh, dass das Fitnessstudio zwei nach Geschlechtern getrennte Saunen besaß, doch diese hatten durchaus ihre Tücken. Sie waren fast immer voll aufgedreht und mitunter einhundertdreizehn Grad heiß. Zum Schutz der Haare trugen viele Männer und Frauen Saunahütte aus Filz und trotz der Verbotsschilder wurden Badesachen, T-Shirts, BHs und Handtücher oft zum Trocknen auf den Heizer gelegt. Als Unterlage benutzten die Besucher in der Sauna keine Handtücher, sondern setzten sich in Badekleidung auf die Holzbänke, neben Alexandra nahm in der Damensauna sogar einmal eine Frau im Jogginganzug Platz und schimpfte auf Russisch und Armenisch über die mangelhafte Hygiene. Wie im gesamten Gym erklang auch in den Saunen permanent laute Musik, fast immer die gleiche Auswahl an aktuellen Pophits, darunter aber auch der R.E.M.-Klassiker »Losing my religion«, dem einhundertdreizehn Grad immer wieder neue Facetten abtrotzen konnten. Im DAAD-Büro stand der Februar ganz im Zeichen der bevorstehenden Renovierungsarbeiten. Etliche Maler wurden gecastet und es mussten Absprachen über die Finanzen mit Lana vom Tempus-Büro und der Vermieterin getroffen werden. In der letzten Februarwoche erschienen plötzlich drei Praktikantinnen, die von der Brjussow-Universität dem DAAD-Informationszentrum zugewiesen worden waren. Leider hatte die Universität es versäumt, das Büro über die Entsendung der Praktikanten vorab zu informieren. Unter Hinweis auf die bevorstehende Renovierung schickte Alexandra die Mädchen daher wieder zurück. Anderntags erschienen die drei wieder und boten an, bei der Renovierung mitzuhelfen. Schließlich wurden für die drei noch Plätze in der Universitätsverwaltung gefunden. Zudem konnte eine mündliche Absprache mit einem der Maler getroffen werden, die später allerdings wieder hinfällig wurde. Es stellte sich heraus, dass der Maler das Büro täglich zwischen acht Uhr abends und zwei Uhr nachts renovieren wollte, im Anschluss an seinen Hauptjob, ohne Helfer und ohne Extrabeleuchtung. Mitte Februar machte eine Abordnung der »Deutsch-Armenischen Universität«, kurz DUA, Alexandra ihre Aufwartung. Die DUA war 2001 von Eduard Saroyan, Inhaber eines Reisebüros, ins Leben gerufen worden und geisterte bereits durch die Berichte ihrer Vorgänger. Acht Jahre später arbeiteten die Gründer immer noch daran, eine staatliche Lizenz zur Aufnahme des Lehrbetriebs zu erhalten. Ohne je einen Studenten unterrichtet zu haben, hatte die DUA trotzdem schon eine beachtliche Aktivität entfaltet, zahlreiche Professuren und Doktorate verliehen und die ehemalige Residenz des iranischen Botschafters angemietet. Deutscher Partner der DUA war keine Universität, sondern die »Akademie St. Paul«, die eine Ausbildung zum Spiritual anbot.
Foto: Badezimmer. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Die DUA-Abordnung stellte Alexandra ausführlich die zahlreichen wissenschaftlichen Institute vor, die an der DUA bereits die Arbeit aufgenommen hätten und erklärte, dass dank des Bologna-Prozesses die an der DUA erworbenen Kreditpunkte von jeder europäischen Universität anerkannt werden müssten. Zum Abschied wurde Alexandra der zweite Band der »Schriftenreihe der Deutschen Universität in Armenien und der Akademie St. Paul« mit dem Titel »Welt im Wandel. Perspektiven der Gesellschaft und der Ökonomie« geschenkt. Voller Neugier las ich in dem Buch. Das Kapitel »Aspekte der Mediengesellschaft« bestand einzig aus dem Drehbuch »Über die allmähliche Verfertigung von Realitäten. Odysseus. Hitler. Koresh« ersonnen und verfasst vom zweifachen Preisträger des Goldenen Telix Reinhard Brock und dem DUA-Ehrenpräsidenten Doktor Paul Imhof. Bemerkenswert war insbesondere die Szene 4.1, die die Tötung von Hitlers Schäferhund Blondi durch den Wachtmeister Fritz Tornow schilderte.
Foto: Blondi. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Kurios war die Vorbemerkung des Beitrags: »Dieser Beitrag wurde aus einem Drehbuch des Instituts für Kommunikation, Grafik und Design der Deutschen Universität in Armenien übernommen und enthält deshalb aus Gründen des Copyrights keine Quellenangaben.« Keine Quellenangaben aus Gründen des Copyrights: Wenn sich doch alle Probleme auf der Welt so leicht aus der Welt schaffen lassen würden. In Vorbereitung auf das Regionaltreffen und die Alumni-Konferenz, die im Mai in Eriwan stattfinden sollten, recherchierte Alexandra Übernachtungsmöglichkeiten für die knapp zwanzigköpfige Gruppe und fand eine bezaubernde Hotelanlage im Luftkurort Aghveran. An der Germanistik-Konferenz sollte auch eine Dozentin aus Aserbaidschan teilnehmen. Da zwischen Armenien und Aserbaidschan faktisch noch Kriegszustand herrschte, waren hier eine Menge Sonderregelungen zu beachten. Personen aus Aserbaidschan mussten beim armenischen Sicherheitsbüro angemeldet und mit einem Sicherheitsauto von der georgischen Grenze abgeholt werden. Zudem war ein vom Sicherheitsbüro ausgewählter Bodyguard einzustellen, der den Aserbaidschaner die ganze Zeit bis zur Ausreise begleiten musste. Im Hotel musste der Bodyguard ein eigenes Hotelzimmer neben dem zu Bewachenden erhalten, im Restaurant neben ihm Platz neben und selbstverständlich mit den gleichen Mahlzeiten verpflegt werden. Nicht zu vergessen waren die Kosten für den gepanzerten Wagen, die Anmeldung beim Sicherheitsbüro und vieles mehr. Leider wurde der aserbaidschanischen Spezialistin für den armenisch-deutschen Sprachvergleich die Teilnahme an der Konferenz nicht genehmigt. Das war sehr schade, auch wenn ihre Teilnahme einen erheblichen organisatorischen und finanziellen Mehraufwand bedeutet hätte. An einem Abend folgten wir der Einladung von Heiko, einem Forschungsstipendiaten, der in Armenien an seiner Doktorarbeit schrieb. Es gab Bratkartoffeln mit Ei. Heiko übersetzte eine mittelalterliche armenische Handschrift ins Deutsche und perfektionierte in seiner freien Zeit sein Armenisch mit einer ungewöhnlichen Lernmethode. In seiner Wohnung klebten auf allen Gegenständen gelbe Haftnotizen mit Assoziationen zu den Dingen. Etwa Begriffe wie »gemütlich« und »weich« auf dem Sofa, »heiß« und »dunkel« auf dem Ofen, »Himmel« und »Dächer« am Fenster – halt alles nur auf Armenisch. Ich musste sogleich an meine Lieblingserzählung »Ein Tisch ist ein Tisch« von Peter Bichsel denken und fand den Anblick der so beschrifteten Wohnung lustig und traurig zugleich. Einen Tag nach dem Besuch bei Heiko bekam ich abends Ohrendruck. Am anderen Tag war der Schmerz so groß, dass ich mit Meri ins Krankenhaus fahren musste, wo ich eine Chefarztbehandlung bei Professor Shukuryan genoss, der sich fürsorglich um mich kümmerte. Meine Ohren waren entzündet, es rührte wahrscheinlich vom Schwimmen her, und Professor Shukuryan riet mir, mir in der Klinik speziell auf meine Ohren angepasste Stöpsel zum Schwimmen anfertigen zu lassen. Der Spezialist, der diese Ohrenstöpsel herstellte, hatte an diesem Tag leider frei, doch ich wollte unbedingt noch diese Stöpsel herstellen lassen. Professor Shukuryan saugte mit einem Gerät meine Ohren aus, nach der Behandlung ging es mir wieder gut, so gut, dass ich zwei Tage später mit Alexandra abends in die Disko im »Club 12« gehen konnte, wo unsere Freundin Gayane regelmäßig auflegte, Latin und herrlichen Euro-Trash, und jeden Besucher eigenhändig auf die Tanzfläche bugsierte. Sie war eine unglaubliche Powerfrau und ein heißer DJ-Kandidat für die große DAAD-Party im Mai. Unvergesslich an diesem Abend war der bis ins Detail choreographierte Ausdruckstanz eines Paares zum Eagles-Hit »The Hotel California«, das angeblich analog zum Beatles-Song »Lucy in the Sky with Diamonds« (= LSD) den Hauptwirkstoff der Hanfpflanze besingen sollte: THC.
Foto: Armenische Röhre (kurz). Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
In Erstaunen versetzte uns die Nachrichtenschlagzeile, dass in der Nähe von Kapan wieder Wölfe unterwegs seien und die Dörfer bedrohten. Angesichts meines lahmen Schreibtempos beschloss ich derweil, so alt wie Ernst Jünger zu werden, um all meine Schreibprojekte zu verwirklichen. Erneut war Alexandra abends zu einem Empfang bei der Botschafterin eingeladen, Anlass war der Besuch von Markus Meckel, Mitglied des Bundestages, der sich auf seiner Visitenkarte als ehemaliger deutscher Außenminister bezeichnete und tatsächlich von April bis August 1990 der letzte Außenminister der DDR gewesen war. Unser Eindruck verstärkte sich, dass ausschließlich SPD-Abgeordnete Armenien besuchten. Während des Empfangs zogen sich plötzlich ein armenischer Minister samt Stab, die Leitung der Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit sowie die Stellvertretende Botschafterin in die Privaträume der Botschafterin zurück, was Anlass zu vielfältigen Spekulationen gab. Alexandra stand kurz davor, die Bürorenovierung abzublasen. Die Vermieterin drohte, ihren Zuschuss zurückzuziehen, und Lana gefiel das Gesicht des als Ersatz angeheuerten Malermeisters nicht. Schließlich wurde doch noch ein Kompromiss geschlossen. Zunächst sollten die Fassade und Alexandras sechs Quadratmeter großes Büro renoviert werden, da das Zimmer seit dem Einbruch katastrophal aussah. Für zwei Wochen sollte das Informationszentrum geschlossen werden und Meri, die gerade aus dem Mutterschutz zurückgekehrt war, die Maler beaufsichtigen. Dann flogen wir für zweieinhalb Wochen nach Berlin, wieder mitten in der Nacht. Armenien hatte kein Nachtflugverbot und für die internationalen Fluggesellschaften war es lukrativer, Flüge nach Eriwan oder Baku oder Tbilissi anzubieten, als die Maschinen auf den westeuropäischen Flughäfen teuer zu parken. In Berlin suchten wir die Buchhandlung am Rathaus Schöneberg und fanden sie nicht, dafür fuhren wir im Rathaus Paternoster und teilten uns anschließend in einem tollen afrikanischen Restaurant eine »Mama Afrika«-Platte. Alexandra hielt virtuell via iChat auf Englisch einen Live-Vortrag in New York State, vor einem buddhistischen Tempel in Frohnau sahen wir Wildschweine und mit meinem Freund David Wagner besuchte ich die Fotorealismusausstellung »Picturing America«. Danach fuhren Alexandra und ich für drei Tage mit dem Mietwagen nach Mecklenburg-Vorpommern und in Neubrandenburg baute ich meinen ersten kleinen Unfall. Bei der Ausfahrt aus dem Parkhaus würgte ich nach der Schranke den Motor ab, im Schritttempo rollte der Wagen die Schräge hinunter, ich dachte nicht an die Handbremse, rollte auf die Straße und rammte dabei in Zeitlupe ein anderes Auto. Zum Glück waren den Insassen und uns nichts weiter passiert und nachdem die Polizei gekommen war und meine Personalien aufgenommen hatte, konnten wir mit unserem leicht ramponierten Fiat die Fahrt fortsetzen.
Foto: Mashtots. Aus: Eriwan. Kapitel 6. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Am Tag vor unserer Rückreise las ich im Berliner Hinterzimmer-Salon von Nikola Richter und René Hamann im Café Johann Rose erstmals aus den Armenischen Aufzeichnungen. Am nächsten Tag flogen wir zurück nach Eriwan. Im Flugzeug freute ich mich über das MacBook, das mir satt.org und SuKuLTuR spendiert hatten, fuhr in Gedanken die Anschlussleiste an der Seite des Rechners entlang und erkannte bestürzt, dass es keinen Modemanschluss gab und ich nicht wusste, wie ich in Zukunft ins Internet kommen sollte. Edik holte uns im Auto vom Flughafen ab und erzählte von neuen Bestechungsskandalen. In der Stadt hingen Plakate mit angeblich korrupten Universitätsdozenten und eine armenische Mitarbeiterin der Deutschen Botschaft sprach von Methoden wie bei Stalin. Die Korruptionsbekämpfung wurde genutzt, um Kritiker und missliebige Dozenten aus den Universitäten und anderen Institutionen zu entfernen. Zuhause brach unser Klodeckel entzwei und die nächsten Wochen verbrachten wir mit der Suche nach Ersatz und nach einem Modem für mein MacBook. Als Alternative bot sich ein ADSL-Anschluss des Anbieters Beeline an, doch um diesen zu bekommen, bedurfte es eines notariell beglaubigten Mietvertrags oder des Filialbesuchs unserer Vermieterin Sirousch. Beides war ein Ding der Unmöglichkeit. Mit einer Horst-Janssen-Ausstellung und einem interessanten Vortrag zu seinem Leben und seinem Werk wurden kurz danach die Deutschen Kulturwochen in Eriwan eröffnet. Dort erfuhren wir, dass der angeblich korrupte Literaturprofessor, der seit einem halben Jahr im Gefängnis war, zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war. Diese Nachricht machte uns sehr traurig. Alexandra und ich machten einen großen Frühjahrsputz, wuschen die Gardinen und nagelten lose Dinge in der Wohnung fest. Am Wochenende luden wir Freunde zu uns ein und Meri brachte uns das Spas-Kochen bei. Die Joghurtsuppe mit Graupen oder Reis war eine unserer kulinarischen Entdeckungen in Armenien gewesen. Am Abend vor dem Besuch hatten wir ein Kilo Graupen zweimal gründlich gewaschen und in einem Topf eingeweicht.
Foto: Graupen. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Am nächsten Tag setzten wir die Graupen auf, kochten sie mit Salz und gossen sie ab. Meri verrührte in einem zweiten Topf drei Becher Matsun und drei Becher Schmand und gab pro Becher einen Löffel Mehl hinzu. Die Graupen und zwei Liter kochendes Wasser wurden dazugegeben und auf kleiner Flamme gekocht. Ani erzählte von der Variante ihrer Mutter, die auch noch ein Ei beifügte und nicht kochendes, sondern kaltes Wasser verwendete. Währenddessen wurde das Koriandergrün fein gehackt und mit der getrockneten Nanaminze dazugegeben. Auf kleiner Flamme wurde das Ganze zwanzig Minuten lang gekocht, zuletzt kam dann die Butter dazu. Die Spas schmeckte hervorragend und wir revanchierten uns mit selbstgebackenen Waffeln.
Foto: Zutaten. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Meike und ihr Freund berichteten von einer NATO-Erdbeben-Übung, an der sie teilgenommen hatten, und bei der gesagt worden sei, dass bei einem Erdbeben der Stärke sechs neunzig Prozent der Gebäude in Eriwan zerstört werden würden. Die Suche nach einem Modem und einem neuen Klodeckel kostete viele Nerven. Sonntags fanden wir einen neuen Klodeckel und tauschten ihn zuhause aus. Beim Anbringen drehte ich eine Schraube kaputt und keine vierundzwanzig Stunden später war der Deckel bereits zerbrochen. Das nächste Modell war zum Glück stabiler und ließ sich auch problemlos anbringen. Aufgegeben hatte ich dagegen die Suche nach einem Modem für mein MacBook und dieses dann in Deutschland bestellt. Ins Internet kam ich zuhause nur noch mithilfe eines lokalen Netzwerkes, das ich mit Alexandras Computer eingerichtet hatte. Im Malerpark kauften wir uns zwei Bilder, ein Aquarell von Noravank und eine getuschte, comicartige Dorfansicht. Wir säten auf dem Balkon Salat aus, sahen und hörten das Osteroratorium von Johann Sebastian Bach, auf der Straße schenkte mir ein junges Mädchen einen gepflückten Blumenstrauß und in der Nacht träumte ich die Vision einer Excel-Formel, die ich schon lange gesucht hatte. Auf einem Empfang erzählte ein Botschaftsmitarbeiter, dass der Sicherheitsdienst an der Brjussow-Universität besonders aktiv sei und angeblich zwei Deutsche, der DAAD-Langzeitdozent und eine dort unterrichtende Frau, beobachtet wurden. An der Universität unterrichteten drei deutsche Frauen: Alexandra, Bianca und die neue DAAD-Sprachassisistentin Trixi, Biancas Nachfolgerin. Eine kulinarische Entdeckung war das italienische, familiengeführte Restaurant Ankyun in der Nähe des Republiksplatzes, das uns als der »kleine Italiener« empfohlen wurde. Das Restaurant war tatsächlich klein und das Essen prima. Auf der Karte gab es sogar eine Pizza Parma mit Schinken, Parmesan und Rucola. Leider stellte sich heraus, dass die Pizza nicht mit Rucola, sondern mit Sauerampfer belegt war, dem »armenischen Rucola«, wie uns die Serviererin lächelnd erklärte. Ostersonntag wollten wir uns etwas gönnen und reservierten für elf Uhr einen Tisch zum Brunch im Marriott Hotel. Als wir pünktlich ankamen, erklärte man uns, dass der Brunch erst um zwölf Uhr anfange. Wir waren hungrig und protestierten so lange, bis wir uns hinsetzen und etwas von den Frühstücksresten essen durften. Um zwölf Uhr wurden wir umgesetzt und um halb eins nahm eine kleine Delegation der Deutschen Botschaft am Nebentisch Platz. Ansonsten war der Saal leer. Nach dem Essen fuhren wir mit dem Taxi nach Etschmiadsin, dem Sitz des Katholikos.
Foto: Etschmiadsin. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Auf der Klosteranlage rund um die Kathedrale waren viele Menschen zusammengekommen und vor dem monumentalen Freiluftaltar, einer Art pixeligen Strandmuschel, traten mehrere Tanzgruppen auf.
Foto: Freiluftaltar. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Junge feenhafte Mädchen in eleganten, blauweißen Gewändern tanzten mit grazilen Bewegungen traditionelle armenische Tänze, danach wackelten kleine Mädchen in bauchfreien Kostümen und kurzen Röcken zu Latino-Klängen mit dem Po. Im Publikum standen Grüppchen schwarz gewandeter Priester. Mit ihren Bärten, den großen schwarzen Kapuzen und fetten Goldkruzifixketten sahen sie aus wie die Mitglieder einer Hip-Hop-Gang.
Foto: Tanz. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Das Wetter war schön und die Gehwege voll. Es herrschte eine fröhlich-feierliche Kurpark-Stimmung. Nachdem wir durch den grünen Park spaziert waren und die prachtvolle Kathedrale und mehrere Kapellen besichtigten hatten, verließen wir die Klosteranlage und bummelten durch die angrenzenden Straßen. Wir überquerten einen riesigen, leeren Platz mit bizarrer Architektur und seltsamen Statuen. In der Mitte des Platzes befand sich eine ausgetrocknete pompös-poröse Brunnenanlage. Umringt wurde der Platz von heruntergekommenen Sowjetbauten und einer halbfertigen Bauruine mit futuristischem, knallgelbem Schrägdach, in deren leeren Fensterhöhle ein gekippter Kühlschrank stand.
Foto: Futuristische Bauruine. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Der Platz war übersät mit neu aufgestellten, orange leuchtenden Papierkörben. Alles war groß gedacht worden, doch die Häuser standen weitgehend leer. Unfertige Prachtbauten ohne Zukunft reihten sich an verstaubte Schießbuden-Container.
Foto: Spaziergang (Etschmiadsin). Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
In der Nebenstraße gab es nur einen einzigen Mieter – die Disco Joker. Lässig lehnte sich ein Bewohner über die waghalsige Balkonkonstruktion seines Wohnhauses und beobachtete uns rauchend aus luftiger Höhe. Ein alter Mann kam uns auf der Straße entgegen, dessen Tochter bis zum Ende der Sowjetunion eine deutsche Brieffreundin gehabt hatte. Er schenkte uns zwei Ostereier und lud uns zu sich zum Kaffeetrinken ein.
Foto: Schwebend. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Ostersonntag hatten wir einen wunderbaren frühsommerlichen Ausflug gemacht, Ostermontag schneite es. Im Büro fiel den ganzen Tag der Strom aus. Der Grund war eine Katze, die ins Umspannwerk geraten war. Am nächsten Tag besuchten wir mit der Ständigen Vertreterin das Bjurakan-Observatorium in eintausendfünfhundert Meter Höhe.
Foto: Bjurakan-Observatorium. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Es war ein toller Besuch, trotz der eisigen Kälte, und wir fühlten uns wie in einem Science-Fiction-Film aus den siebziger Jahren.
Foto: Science-Fiction. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Die nächsten Wochen waren der Vorbereitung auf das große Alumni-Treffen und die Germanistikkonferenz im Mai gewidmet. Zu diesem Großereignis sollte auch der DAAD-Generalsektretär anreisen. Zudem kuratierte und organisierte ich für die Deutsche Botschaft ein kleines Comic-Festival mit einer Zeitungscomicausstellung, die im Juni in Eriwan und anschließend in Gyumri gezeigt werden sollte und bei der unser Freund Andreas Platthaus als Experte eingeladen worden war. Die Vorbereitungen bedeuteten viel Arbeit und Ablenkung von meiner Romanarbeit, doch wir freuten uns sehr auf die Veranstaltungen und das Wiedersehen mit unseren Freunden und Kollegen. Nachmittags ging ich zum Schneider in die Stadt mit zwei Anzughosen zum Kürzen. Das Geschäft war zur einen Hälfte ein Schneider, zur anderen Hälfte ein Frisörsalon und die Anprobe fand inmitten von sechs Leuten statt. Die Schneiderin wusste nicht, ob sie die Hosen verlängern oder kürzen sollte, und mein Vertrauen schwand. Mit beiden Anzughosen begab ich mich wieder auf den Nachhauseweg. Dort las ich im ARD/ZDF-Videotext folgende Schlagzeile: Sloterdijk vergisst Hochzeitstag. Mein Freund Hajo meinte, dass der Philosoph seine Sphären-Trilogie nur geschrieben hatte, um einmal ein Buch mit dem Titel »Blasen« veröffentlichen zu können. Ich ging auf den Balkon und schaute ins Tal. Ein Bauarbeiter vom Nachbargrundstück nahm einen verschnürten Müllbeutel und warf ihn im hohen Bogen auf das Grundstück unter unserem Haus. Der Völkermordgedenktag fand wie jedes Jahr am vierundzwanzigsten April statt. Abertausende Menschen pilgerten aus diesem Anlass an diesem Tag zum Mahnmal Zizernakaberd hoch über dem Hrasdan-Tal. Dicht gedrängt, aber ruhig liefen die Menschen die breiten Alleen von der Straße hinauf zum Denkmal. Wir waren sehr berührt von dem starken Gemeinschaftsgefühl, das auf dem gemeinsamen Weg entstand. Die Stimmung war still und ernst, aber nicht bedrückt.
Foto: Pilgern. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Oben auf dem Berg angekommen, eröffnete sich uns ein großes Plateau mit einem weithin sichtbaren, gespaltenen Obelisken. Der Marsch zum Denkmal dauerte insgesamt fast zwei Stunden. Über hunderttausend Menschen sollen jedes Jahr an den Feierlichkeiten teilnehmen. Unter den zwölf gewaltigen Stelen, die die Provinzen Armeniens darstellen, brannte in der Mitte ein ewiges Feuer. Davor türmte sich ein meterhoher Berg aus roten und weißen Nelken, vor dem die Menschen im stillen Gedenken ihre Blumen ablegten.
Foto: Zizernakaberd. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Anfang Mai, in der heißen Vorbereitungsphase zum großen Alumni-Treffen, bekamen wir morgens einen Anruf von Bianca. Sie war auf der Straße von einem streunenden Hund gebissen worden. Da Bianca nicht gegen Tollwut geimpft war, brauchte sie unverzüglich eine nachträgliche Tollwutimpfung. Diese kostete umgerechnet knapp eintausendfünfhundert Euro. Allerdings rieten die deutsche und die amerikanische Botschaft davon ab, den armenischen Impfstoff zu benutzen und Bianca sollte sogleich nach Deutschland fliegen, um sich dort impfen zu lassen. Glücklicherweise gab es noch eine Alternative. Sie erhielt die Erlaubnis, sich den Impfstoff beim Bundeswehrstandort in Georgien abzuholen. Bianca und Nigel zögerten nicht lange, setzten sich ins Auto und fuhren zur Grenze. Im SuKuLTuR-Postfach entdeckte ich am Samstagmorgen eine E-Mail von Max Goldt, der uns einen Text für unsere »Schöner Lesen«-Heftreihe anbot. Ich dachte sofort an eine Verwechslung, doch es lag keine Verwechslung vor. Frank, Torsten und ich, die wie an jedem Wochenende ausführlich zusammen ichatteten, waren ganz außer uns vor Freude. Nach unserem Audio-Chat stellte ich die Strips für die Ausstellung mit deutschen Zeitungscomics zusammen und schrieb die zu übersetzenden Begleittexte. In der Wanderausstellung wollte ich Zeitungsstrips von Jan-Frederik Bandel und Sascha Hommer (»Im Museum«), Ralf König (»Archetyp«), Volker Reiche (»Strizz«) und Tom (»Touché«) zeigen. Fingerspitzengefühl benötigte ich besonders für den Begleittext zu Ralf König. Homosexualität war in Armenien ein Tabu, doch dass Ralf König schwule Comics zeichnete, konnte ich keinesfalls unter den Tisch fallen lassen. Im Mai fanden im Rahmen der »Deutschlandwochen im Südkaukasus« eine Vielzahl von Veranstaltungen in Armenien statt, die alle von Alexandra und ihrem Team konzipiert und organisiert worden waren. Zu den Veranstaltungen reisten auch der Generalsekretär und drei weitere Mitarbeiter aus der Zentrale in Bonn nach Eriwan. Den Anfang des Veranstaltungsreigens machte eine zweitägige Germanistik-Konferenz zum Thema »Deutsch im kulturellen Kontrast und Kontakt mit den Sprachen der transkaukasischen Welt«. Am ersten Abend standen auch eine Lesung und ein Werkstattgespräch mit David Wagner auf dem Programm. Ich stellte David vor, er las aus seinem Buch »Spricht das Kind«, danach sprachen wir über seine Arbeit. Die Veranstaltung im Tumanjan-Museum war hervorragend besucht, die Lesung und das Gespräch kamen beim Publikum sehr gut an und hinterher wurde David von zahlreichen jungen Armenierinnen umlagert, die sich von ihm die kostenlos verteilten »Schöner Lesen«-Hefte signieren ließen. Zur gleichen Zeit explodierte in Eriwan eine Chemiefabrik, doch zum Glück bekamen wir davon nichts mit.
Signierstunde mit David Wagner. Aus: Eriwan. Kapitel 6 Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Die Fortsetzung und ihren Abschluss fand die Germanistikkonferenz am nächsten Tag. Am gleichen Abend wurde in der stylischen Artic Bar des Golden Palace Hotels der große Eröffnungsempfang zum ersten Alumni-Treffen in Armenien ausgerichtet. Knapp einhundertzwanzig armenische Alumni hatten sich zu dem Empfang angemeldet, zu dem auch die deutsche Botschafterin und zahlreiche armenische Universitätsrektoren erschienen waren. Anders als in Deutschland ist es in Armenien nicht üblich, auf eine feierliche Eröffnung des Büffets zu warten, daher waren die etwas zu sparsam georderten Häppchen schon vor dem letzten Grußwort aufgezehrt, was bei den deutschen Delegierten für Stirnrunzeln sorgte. Um so mehr Freude kam auf, als eine große Torte mit blauweißem DAAD-Schriftzug aufgefahren wurde, die der Generalsekretär und Alexandra umringt von Kameras und Fotografen gemeinsam anschnitten. Am Samstag wurde dann in der Staatlichen Universität die Alumni-Konferenz mit dem Thema »Armenien und Deutschland – Gemeinsame Wege in Wissenschaft und Forschung« eröffnet. Die räumlichen Verhältnisse waren ziemlich eingeschränkt, da am gleichen Tag im selben Gebäude eine kurzfristig anberaumte Großveranstaltung mit dem armenischen Präsidenten stattfand und deshalb in aller Eile noch einige Verschönerungsmaßnahmen vorgenommen wurden. Die Flure waren frisch gestrichen worden, überall lagen Werkzeuge und standen Farbeimer und Leitern herum, zudem war das Wasser im gesamten Gebäude abgestellt worden. In nur zwei Stunden und ohne Wasserversorgung gelang es Meri mit dem Putzkommando der Universität für Ordnung zu sorgen. Wieder einmal stellte sich heraus, dass Schimpfen eine wichtige Qualifikation für den Job beim DAAD war. Am Abend nach dem Alumnitreffen fand im Restaurant Nor Dzoraberd ein festliches Abendessen mit Alumni, Lektoren und Partnern statt. Das Restaurant war idyllisch über dem Hrasdan-Tal gelegen und bot eine aufregende Aussicht auf das Fussballstadion und die Schlucht. Eine Folklore-Band brachte Armenier und Deutsche bei schweißtreibenden armenischen Tänzen zusammen und anschließend schlug meine Stunde als DJ. Im Vorfeld hatte Alexandras Vorgesetzter immer wieder darauf hingewiesen, dass die Disko einen der wichtigsten Programmteile während des Alumnitreffens darstelle und schon vor Monaten hatten Alexandra und ihr Team nach guten DJs in Eriwan Ausschau gehalten und eine geeignete DJane ausfindig gemacht, die aber wenige Tage vor dem Fest absagen musste. Als Ersatz sprang notgedrungen ich ein. In Berlin hatte ich als DJ Satt schon ein paar Mal im Kaffee Burger aufgelegt und war bekannt dafür, mit meinem Musikmix aus harter Elektronik, zuckersüßen Schlagern und psychodelischen Rock Tanzflächen in kurzer Zeit leerzufegen.
Foto: Armenische Röhre. Aus: Eriwan. Kapitel 6. Aufzeichnungen aus Armenien von Marc Degens.
Aus der Bonner Zentrale hatten wir erfahren, dass der Generalsekretär auf Rock’n’Roll und ganz besonders auf Elvis Presley stehe und auf der Feier unbedingt getanzt werden müsse. In jeder freien Minute bastelte ich an meiner Wiedergabeliste und gab mir für den Auftritt einen neuen Künstlernamen: DJ Konsens. Das Set begann mit den Carpenters (»We’ve Only Just Begun«), Barry White (»Your Sweatness Is My Weakness«) und »Chim-Chim-Cheri« in der deutschen Version von Rex Gildo, Alexandras und meinem Hochzeitswalzer. Der erste Höhepunkt wurde dann nach einer Viertelstunde mit Elvis Presley (»Burning Love«), The Rolling Stones (»Gimme Shelter«), Blondie (»Heart Of Glass«) und Madonna (»Hang Up«) erreicht. Gekrönt wurde das Set nach gut einer Stunde mit Baccara (»Yes Sir, I Can Boogie«), Amanda Lear (»Blood And Honey«) und A-has »Hunting High And Low«, das auf magische Weise in »Bitter Sweet Symphony« von The Verve überging. Zu diesem Zeitpunkt war das Eis längst gebrochen, alle im Saal tanzten und von da an war es egal, was ich auflegte. Nach der Feier kamen wir erst spät ins Bett, mussten am anderen Tag aber schon wieder früh raus, weil die Eröffnung des Regional-Lektorentreffens auf dem Programm stand. An dem Treffen nahmen siebzehn DAAD-Lektoren aus dem Kaukasus und Zentralasien sowie Afghanistan und dem Iran teil, zwei Sprachassistentinnen, zwei Mitarbeiter aus der Zentrale in Bonn und der Generalsekretär. Das Treffen begann mit einem Ausflug nach Dilidschan, zum Sewansee und zum Kloster Haghartsin. Der Ausflug trug das Motto »Mönche, Fürsten, Molokanen: Vom Sewansee in die armenische Schweiz« und die landeskundlichen Einführungen hatten zwei Forschungsstipendiaten übernommen. An das gemütliche Mittagessen im Restaurant Haykonoush schloss sich eine Wanderung zum Kloster Goshavank und danach die Weiterfahrt nach Aghveran an. Abends gab es ein traditionelles armenisches Barbecue mit Chorowaz, gegen halb zehn trennte sich dann die Gruppe. Während Alexandra mit den anderen Lektoren zum Fortbildungsseminar in Aghveran blieb, fuhren der Generalsekretär, Meri und Ani, David und ich im Bus zurück nach Eriwan. Ich brachte David und den Generalsekretär zu ihrem Hotel, von dem der Generalsekretär um vier Uhr früh abgeholt werden sollte. Als wir am Hotel ankamen, bemerkte der Generalsekretär, dass er im Bus seinen aufklappbaren Bügel vergessen hatte. Ich rief sogleich Meri an, die sich mit Samuel sogleich auf den Weg machte, um den vergessenen Bügel wiederzubeschaffen. David und ich leisteten derweil dem Generalsekretär in der Hotellobby noch Gesellschaft und er erzählte unterhaltsame Geschichten von früheren konspirativen Treffen im Ostblock, die sich wie Spionagegeschichten aus der Zeit des kalten Krieges anhörten. Gegen Mitternacht kam schließlich Meri im Hotel vorbei und brachte den vermissten Bügel. Der Generalsekretär, David und ich tranken noch einen letzten Kognak in der Lobby, danach verschwanden die beiden auf ihren Zimmern, während ich müde, aber glücklich den Weg nach Hause antrat.